Wie alles begann (1/3): Hühner auf dem Balkon

Louise Gassenmeyer

Louise Gassenmeyer

Wenn man es genau nimmt, fing die Idee zur Gründung unseres Projektes mit einer ernüchternden, wenn auch sehr naheliegenden Erkenntnis an: Auf einem 3 qm großen Balkon in Kreuzberg kann man keine Hühner halten.

Daraufhin haben Johannes und ich im April 2019 ziemlich hypothetisch bei einem Bier nach Grundstücken in Brandenburg gesucht, auf denen eine gute Handvoll Hühner Platz haben könnte. Dabei hat der Immoscout Algorithmus, der es gut mit uns beiden meinte, einen Vorschlag gemacht: 10.000 qm Grundstück, obendrauf eine um 1890 erbaute, fast 2.000 qm große ehemalige Förderschule mit Turnhalle in der Lausitz, anderthalb Stunden mit Direktverbindung nach Berlin. Klare Sache: viel zu groß, ziemlich utopisch. Schließlich könnte man auf dieser Fläche neben 300 Hühnern auch noch eine kleine Schafherde und einen erweiterten Streichelzoo unterbringen. Oder viele Menschen. Menschen, die die großen leeren Räume bewohnen und bewirtschaften können. Die den Leerstand aufheben und gemeinsam den Garten wieder beleben. Die Werkstätten ein- und Kulturveranstaltungen ausrichten. Das Gebäude für viele verschiedene Interessengruppen öffnen…

Und da dämmerte es uns: Es geht hier gar nicht nur um Hühner. Plötzlich kam mir die gemeinsame Wohnung fast ein bisschen einsam vor. Seltsames Gefühl, was ging hier vor sich? Ich war verwirrt. Der von doch erstaunlich vielen Menschen gehegte Wunsch nach einem Reihenendhaus mit Plastikrutsche und Buchsbaumhecke, das Eigenheim als Endlager der menschlichen Ambitionen, löst bei mir seit ich denken kann Ganzkörpergänsehaut (nicht der guten Art) und Schweißausbrüche aus. Der Fuchs auf dem Bausparvertrag ist das einzige Tier, das ich aus vollem Herzen scheiße finde. Die Berliner Wohnung schien für mich immer der einzige Ort auf der Welt zu sein, bei dem ich zu 100 % sagen konnte: Hier fühle ich mich zuhause. Was war da passiert? Hatte ich nicht vor 5 Jahren die Kleinstadt verlassen, um die Großstadt mit ihren Vorzügen für immer zu genießen?

Je mehr ich über ein Leben auf dem Land nachdachte, desto mehr nahm ich Aspekte der Stadt wahr, die ich die letzten Jahre geflissentlich ignoriert hatte. Berlin schien zunehmend lauter, hektischer und beengter zu werden. Das Bier vom Späti um 4 Uhr morgens schmeckte irgendwie schal, der unablässige Autoverkehr ging mir noch mehr als sonst auf die Nerven, auch ohne dass ich auf dem Rad saß. Auf der Suche nach Natur durch die überfüllten Parks und vollgestopften Seen zu mäandern, stresste mich zunehmend. Ich fühlte mich anonym in dieser Millionenstadt. Ein Gefühl, das ich noch vor ein paar Jahren genossen habe: Keine*r kennt mich, ich kann tun und lassen, was ich will und friedlich in der Masse untertauchen. Wie hatte ich dieses Privileg mit offenen Armen willkommen geheißen, in einer Zeit, in der ich mir eigentlich noch gar nicht sicher war, wer ich bin (hätte ich übrigens damals auf den Tod nicht zugegeben 😉). Immer mehr begann ich in freien Momenten darüber nachzudenken, wie ich in Zukunft eigentlich leben möchte. Wie wichtig sind mir die unumstritten zahlreichen Vorteile des Großstadtlebens? Worauf kann ich verzichten, und weiter: Ist es wirklich ein Verzicht? Welche Aspekte meines Lebens müsste ich aufgeben und zu welchen hätte ich ohne das Geflimmer und den Trubel mehr Zugang?